Beflügelt und überschattet von Europa
Nachbericht 5. Oberurseler Werte- und Wirtschaftskongress
Zwei Tage vor der Europawahl und am Tag des Rücktritts von Theresa May vom Parteivorsitz der Konservativen in Großbritannien: Neben Lokalem und dem Globalen stand beim fünften Oberurseler Werte- und Wirtschaftskongress am 24.Mai die kontinentale Dimension im Mittelpunkt. Europa, die Rolle der Kirche, die neuen Pro-Klima- und Pro-Europabewegungen, Crowdfunding und viele praktische Unternehmensbeispiele fanden sich auf der Agenda. Die 160 Teilnehmer aus Oberursel, Rhein-Main und auch von weiter her partizipierten an klugen Beiträgen zu zentralen und brisanten Themen unserer Zeit.
Bei der Begrüßung legte der fokus O.-Vorsitzende Michael Reuter mit dem Hinweis auf die Skandale um Diesel-Abgase sowie um die Deutsche Bank gleich den Finger in die Wunde und appellierte an die Verantwortung von Unternehmen. Können es die Kleinen und Mittelständler besser? Dann lohne es sich, sie zu stärken. Genau dies tun die IHK Frankfurt am Main und ihr neuer Präsident Ulrich Caspar. Er bezeichnete den Fachkräftemangel als eine der größten Herausforderungen und ebenso die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Oberursels Bürgermeister Hans-Georg Brum war hier in der Pflicht zu antworten. Er mahnte die Grenzen des Wachstums für Wohnraum im Ballungsraum an und ebenso die Notwendigkeit, gemeinsame, konsensfähige Lösungen zu finden. Als Diplom-Volkswirt widersprach er der grauen Ökonomie-Eminenz Adam Smith und war überzeugt, „Dialog und Kompromisse sind kein Zeichen der Schwäche, sondern führen zum Erfolg!“
Mit Spannung erwartet wurde der Vortrag des Bischofs von Mainz, Dr. Peter Kohlgraf. Dieser stellte die Enzyklika Laudato si‘ von Papst Franziskus vor, die sich der Sorge um das gemeinsame Haus, also unserer Erde, widmet. Er brachte sie in einen historischen Kontext und bezeichnete sie als einen Wendepunkt in der Kirchengeschichte. Enttäuscht von den Ergebnissen zweier Klimakonferenzen habe der Papst sich interdisziplinär von verschiedenen Wissenschaftlern beraten lassen sowie interreligiös auch mit muslimischen und orthodoxen Kreisen gesprochen, bevor er mit der Enzyklika begann. Nicht theologische, sondern wissenschaftlich begründete Thesen und Überlegungen, die den Verlust der biologischen Vielfalt, die nicht-nachhaltige Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Umweltverschmutzung und Wegwerfkultur anprangern, stehen am Anfang. Ein wichtiger Satz lautet: „Der moderne Mensch wird nicht zum richtigen Gebrauch der Macht erzogen.“ In einer Rückkehr zu den Werten Respekt und Genügsamkeit, in der Überwindung der Selbstbezogenheit und in einem bewussteren Leben, das unnötige Bedürfnisse eben nicht befriedige, sehe Papst Franziskus einen guten Weg für den Menschen und die Menschheit. In der anschließenden Diskussion und im Tagungsverlauf stellte sich heraus, dass viele sonst gut informierte Teilnehmer von der Enzyklika Laudato si‘ noch nie gehört hatten. Was beweist, wie wichtig es ist, dass die Kreise unterschiedlicher Gruppierungen in Berührung kommen.
Ein gezogener Backenzahn und der erste Satz „Ich bin kein Redenhalter!“ nahmen Claus Wisser, Gründer des Reinigungs- und Dienstleistungskonzerns WISAG, nichts von seinem Charisma. Er erzählte von einer klassischen Nachkriegskarriere, die er mit viel Herz und Hartnäckigkeit, Ehrgeiz und Einsatzfreude vorantrieb. Vom Studenten, der im Nebenjob Firmen reinigte, wurde er schnell zum Unternehmer mit 20 Angestellten. Sein Credo „Behandle andere so, wie du gern behandelt würdest!“ brachte ihn weit. Er ging auch unorthodoxe Wege, ließ sich nie unterkriegen und nutzte die zweite oder dritte Chance, wenn ihm die erste versagt war. Die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche und die Mitgliedschaft in der SPD prägten ihn, doch heute sagt der Gründer des WISAG-Konzerns mit mehreren Zehntausend Mitarbeitern, der die Leitung inzwischen seinem Sohn überantwortet hat: „Irgendwann ist Parteizugehörigkeit nicht mehr wichtig. Man findet überall Leute, mit denen man reden kann und sollte die Zahl seiner Feinde möglichst niedrig halten.“ Dies gelang dem Mitbegründer des Rheingau-Musik-Festivals und heutigen Kuratoriumsvorsitzenden des Museums Caricatura in Frankfurt/Main offensichtlich, der sich bis heute zuerst als Mensch und dann erst als Unternehmer sieht. Und der Humor für essenziell hält.
„Analoge Kompetenzen für die digitale Welt“ forderte der Arzt, Berater und Autor Dr. Walter Kromm in seinem Vortrag. Aber warum? Weil laut Umfragen nur ein knappes Fünftel aller Arbeitnehmer loyal sind und gerne zur Arbeit gehen. Standardisierte Mitarbeitergespräche, schematisches Loben und selbst betriebliches Gesundheitsmanagement griffen nicht: „gelesen, gelacht, gelocht, geheftet“ sei die Haltung vieler Arbeitnehmer. Besser, weil weniger schematisch, mit mehr Empathie und Begeisterung, machten es die Startups. Dr. Kromm fragt nicht, was Leute illoyal macht, sondern was sie loyal und damit auch gesünder erhält. Seine Antwort: Die Führungskraft ist entscheidend! Er ließ Arbeitnehmer befragen, woran sie erkennen würden, dass ihr Chef über Nacht zum besten Vorgesetzten der Welt geworden sei und was das mit ihnen machen würde. Zu den meistgegebenen Antworten zählten Verständnis, Chance auf Mitgestaltung, Zuversicht, Bestätigung, dies hätte ein „Mehr-Wert-Gefühl mit allen Konsequenzen“ bei den Angestellten zur Folge. Es zeigte sich, dass das Lösungswissen in der Organisation bereits vorhanden war – wie in den allermeisten anderen Fällen auch. „Miteinander-Management“ nennt der Berater seinen Lösungsvorschlag. Dazu hörte man viele nachdenkliche Gespräche in der Mittagspause des Werte- und Wirtschaftskongresses.
Ebenfalls mit Aspekten der Führung beschäftigt sich der systemische Personal- und Organisationsentwickler Hubertus Spieler, der bereits mehrmals in Oberursel als Redner eingeladen war. Er legte dar, dass notwendige Veränderungen in Unternehmen gelingen und mitgetragen werden, wenn ein Rhythmus aus Stress und ruhigeren Phasen, aus Neuem und Bekanntem gegeben ist. Gemeinsam mit dem Plenum schwieg er drei Minuten lang und ließ die Zuhörer spüren, was dies bei ihnen bewirkte. Im Fluss zu bleiben zwischen „Stress-Burnout“ und „Langeweile-Boreout“ sei die Herausforderung im Arbeitsleben. Mit der inneren Stabilität, die dabei entstehe, könnten Veränderungen leichter akzeptiert werden und Menschen sogar über sich hinauswachsen und neue Fähigkeiten herausbilden – was für sie selbst höchst befriedigend und auch für den Arbeitgeber gut sei.
Unter der Qual der Wahl litten die Besucher des Kongresses, als es in die Nachmittagsforen ging. Crowdfunding und soziale Verantwortung oder handwerklich-künstlerisches Schaffen global und international, die Entscheidung war nicht leicht. Dr. Alexandra Partale stellte die Plattform place2help vor, die seit 2015 auf regionaler Ebene Crowdfunding-Projekte sichtbar macht. Diese besondere Art Geld zusammenzulegen – auch für Projekte, die sonst keine Darlehen oder Förderungen erhielten – erweist sich als demokratisches Finanzierungsinstrument. Wem es gelingt, die Crowd zu überzeugen und zu begeistern, ist am erfolgreichsten und erhält womöglich auch Fördermittel aus dem Regionalfonds. Die Kunstpädagogin Anke Karen Meyer und das von ihr vertretene Projekt Bridges – Musik verbindet haben mit Crowdfunding via place2help mehrere Projekte realisieren können. Bridges, das sind 130 Musiker mit und ohne Migrationshintergrund mit teils ungewöhnlichen Instrumenten, die (nicht nur) musikalisch miteinander sprechen und voneinander lernen – gelebte „Identigration“. Ein Konzertausschnitt zeigte den besonderen Reiz dieses Zusammenspiels, für Juli 2019 kündigte Meyer auch ein Konzert im Rahmen des Orscheler Sommers im Rushmoor Park an. Über Crowdfunding wurden für Bridges 2028 insgesamt 18.000 Euro gesammelt – für Meyer „Online-Shopping mit Sinn“.
Nicht minder interessant war Forum 2 mit lokal-internationalem Spannungsfeld aus Handwerk und Kunst. Wie die Arnold AG es schafft, Metall zum Erlebnis zu machen und sich mit hochwertigen, nicht seriellen, in Deutschland produzierten Metallprodukten für Industrie, Baubranche und Kunstwelt am Markt zu behaupten, davon berichtete deren Vorstandsvorsitzender Uwe Arnold. Leidenschaft für die Lösung bei jedem neuen Auftrag und Perfektion in der Ausführung machten den Unterschied aus, so Arnold. Aus den Entwürfen des Künstlers Jeff Koons schafft das Unternehmen Arnold regelmäßig Skulpturen, die die Kunstwelt begeistern und Höchstpreise erzielen. Dafür braucht es Mitarbeiter, die sich „mit Haut und Haaren der Herausforderung hingeben.“ Ganz sein eigenes Ding macht hingegen der Holzkünstler Hendrik Docken, der mit der Freiheit des Künstlers alle elektronischen Medien während seines Vortrags außen vorließ und stattdessen einen Adler aus Holz mitbrachte. „Hendoc“, als den man ihn in Oberursel und der Kunstszene kennt, lebt im Wald, verwendet Naturmaterialien aus der Region und gern auch bereits benutzte Objekte. Der Individualist bewerkstelligt die Grätsche von lokalem Schaffen und globalem Verantwortungsbewusstsein, indem er mit seinem Sohn das Naturschutzprojekt „Never ever for sale“ gründete, das den Regenwald in Costa Rica schützen soll.
Den Impuls für die abschließende Podiumsdiskussion setzte Eric Menges, Geschäftsführer der FrankfurtRheinMain GmbH. Er beschrieb eine prosperierende, quirlige Region, Frankfurt sei trotz der „nur“ 750.000 Einwohner mit Flughafen, Messe und Banken eine international bekannte Marke und RheinMain ein „komplettes Ökosystem an Firmen“ mit dem größten Internetknoten Europas. Etwa 80 Neuansiedlungen von Firmen begleitet seine Unternehmung jährlich, und Menges bat die Zuhörer, Gutes in der Welt von RheinMain zu berichten, damit es weiterhin bergauf gehe.
Mit ihm auf dem Podium saßen gleich im Anschluss Rebecca Wagner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Dr. Daniel Röder, Gründer und Vorstandsvorsitzender von Pulse of Europe, sowie Bernd Neuner, Director of Sales, Application & Support bei ZES Zimmer Electronic Systems. Das Thema europäische (Wirtschafts-)Werte schien aktueller denn je. Die Wissenschaftlerin Wagner wusste zu berichten, dass mehr als zwei Drittel der jungen Menschen in Großbritannien für den Verbleib in der EU sind und wahrscheinlich auch so abstimmen würden – „junge Menschen denken eher global als national.“ Zunehmend hinterfrage die Jugend die Diskrepanz zwischen dem, was gesagt, und dem, was getan werde, Werte wie Sinn der Arbeit, Umwelt und Familie seien ihr wichtig. Unternehmer könnten, auch im Sinne ihres eigenen Wettbewerbsvorteils, Vorreiter sein und neue Beteiligungsformen, regionale Projekte und Flexibilisierungsmodelle vorantreiben. Dr. Daniel Röder, der mit der Bewegung Pulse of Europe nach der Verschlechterung des transatlantischen Verhältnisses und des drohenden Brexits der negativen Energie etwas Positives entgegensetzen wollte, beschrieb den gar nicht so professionellen Schwung des Anfangs. Er plädierte für eine Umdefinition der sozialen Marktwirtschaft weg von der Ressourcenvernichtung durch Wachstum. Eric Menges, der viel in Asien unterwegs ist, berichtete hingegen von der Bewunderung, die er erntet, wenn er dort von den Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland berichte. Hoffnung machte Bernd Neuner mit dem Denkansatz „Gemeinwohlökonomie ersetzt Profitökonomie“, der im Mittelstand stärker als in Konzernen angenommen werde. Auch die Bürger stehen in der Pflicht und sollten auf die Unternehmen mit ihrem Konsumverhalten einwirken. Eine Nachfrage aus dem Publikum zeigte ebenfalls, dass man die Grenzen des Wachstums vor Augen hat: Wollen wir wirklich weitere Großkonzerne in einer bereits überhitzten Region?
In einem Satz zusammenzufassen war ein solch gehaltvoller Kongresstag nicht, doch Michael Reuter fand die perfekte Überleitung zum Abendprogramm: „Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst!“ Das Goethe-Zitat ist aus Faust I, und genau dieses Stück wurde in einer launisch-lustigen Version von Michael Quast und Philipp Mosetter gegeben – mit vielen Auslassungen, ein paar Wiederholungen, Papierfliegern und Ausflügen in die Quantentheorie und die Psychoanalyse.